Neulich von einer Bekannten auf die Frage angesprochen, wie weit denn meine Kurzgeschichte sei, antwortete ich ihr, die Rohfassung sei soweit fertig, aber ob ich die ganze Überarbeiterei bis zum Einsendeschluss schaffe, wisse ich noch nicht. Daraufhin fragte sie mich, ob ich denn dann wenigstens die Rohfassung zum Wettbewerb einschicken würde. Schaudernd wich ich zurück. Versenden? Eine Rohfassung? Niemals! Sie schaute mich ein wenig unverständlich an, nicht wissend, was denn so schlimm daran sei, eine nicht hundertprozentig feingearbeitete Geschichte zu verschicken. Es ginge doch in erster Linie um die Idee. Dafür hätte ein Verlag, eine Agentur, der Ausrichter eines Wettbewerbs doch bestimmt Verständnis.

Tja, das ist leider ein fundamentaler Irrtum. Ein Verlag, eine Agentur oder der Ausrichter eines Wettbewerbs haben weder die Zeit noch die Lust, sich um unfertige Projekte zu kümmern. Auf ihren Internetseiten flehen die Anbieter die Autoren geradezu an, ihre Manuskripte bzw. Leseproben doch bitte erst dann einzuschicken, wenn man wirklich überzeugt sei, einen Text so gut ausgearbeitet zu haben, dass man kein Verbesserungspotenzial mehr sehe. Mit bloßen Ideen oder Rohfassungen anzukommen kann man sich leisten, wenn man als Autor fest im Sattel sitzt und quasi zusammen mit dem Lektor eines Verlages oder seinem Agenten ein Buch von der Idee an entwirft.

Und zweitens: Eine Rohfassung hat nichts mit “nicht hundertprozentig feingearbeitet” zu tun, denn eine Rohfassung ist meilenweit davon entfernt, auch nur halbfertig zu sein. Aber, um ein wenig mehr Licht ins Dunkel zu bringen, wenden wir uns doch mal der Frage zu: Was ist das eigentlich, eine Rohfassung?

Eine Rohfassung geht erheblich weiter als ein Plot, welcher nur ein Grundgerüst, eine Sammlung von Gedanken, Charakteranalysen und Schauplatzbeschreibungen darstellt. Eine Rohfassung enthält bei mir bereits strukturiert und überwiegend ausformuliert die gesamte Geschichte in kausal miteinander verknüpften und aufeinander abfolgenden Szenen. Sämtliche Figuren und Schauplätze kommen vor, Dialoge sind vorhanden und teilweise lässt sich eine Rohfassung schon lesen, wie das fertige Manuskript. Aber eben nur teilweise. Beim Schreiben einer Rohfassung achte ich nicht auf Perfektion. Ich schreibe einfach, wie mir die Gedanken in den Sinn kommen. Manchmal so schnell, dass ich ganze Wörter oder Halbsätze auslasse, nur um schneller weiter zum nächsten Satz zu kommen, bevor ich ihn wieder vergesse.

Rechtschreibung, Wortwahl, Satzbau, Zeichensetzung spielen keine Rolle. Mitunter lasse ich auch ganze Dialoge weg. Figuren, die noch keine Namen haben, werden “Bla” oder “Schnick” genannt. Szenen reißen mitten im Satz ab, ergänzt von einem Klammerzusatz, in dem steht “Hier muss noch etwas hin” oder “Darüber muss ich mir noch Gedanken machen”. Auch Absätze, in denen zehnmal hintereinander das gleiche Verb oder Adjektiv gebraucht wird, kommen vor. Manchmal schreibe ich auch den gleichen Absatz oder Dialog mehrmals hintereinander, mit unterschiedlicher Satzstellung oder alternativen Formulierungen, um mir später Gedanken darüber zu machen, welche Variante mir am besten gefällt oder der Geschichte am besten dient.

Es kommt mir also beim Erstellen der Rohfassung zunächst nur darauf an, die Geschichte aus mir herauszulassen, egal wie. Mir über Formulierungen, Stil, Dialogdetails usw. Gedanken zu machen, hat Zeit für die vielen Zyklen der Überarbeitung, wenn der innere Lektor eingeschaltet und jeder einzelne Satz an den Marterpfahl der Kritik gestellt wird.

Ich denke, daraus wird klar, dass eine Rohfassung eine reine Autorenfassung ist und ebensowenig etwas in der freien Wildbahn zu suchen hat, wie ein neues Auto, das zuerst nur als Holz- oder Tonmodell existiert. Erst dann, wenn es zumindest den Erlkönigstatus erreicht hat, wird ein Auto erstmals in der Realität auf seine Praxistauglichkeit getestet und hie und da von aufmerksamen Journalisten erspäht. Ihr kennt vielleicht diese merkwürdigen Fotos, meistens etwas unscharf, von seltsam verkleidet aussehenden unbekannten Autos, die irgendwo in den verschneiten schwedischen Wäldern aufgenommen wurden. Übertragen auf eine Geschichte wäre das Erlkönigstadium dasjenige, zu dem erste Testleser die Story in die Finger gedrückt bekommen, verbunden mit der Aufforderung, ein Brauchkarkeitsurteil abzugeben. Mit Holzmodellen sollte man jedoch keinen Testleser und erst recht keinen Verlag, Agenten oder Ausrichter eines Literaturwettbewerbes behelligen.

Schöne Pfingsten wünscht
Euer

Schreiberlein

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